SAN FRANSISCO — Ich fing in der zweiten Klasse damit an, Beleidigungen aufzulisten. Bemerkenswerte Herabsetzungen, die ich außerhalb meines sonderpädagogischen Klassenzimmers hörte waren „Behindertengluckser“ oder „das Fleisch im Sandwich der Dummheit“. Das letztgenannte stellt, wenn man darüber nachdenkt, eine äußerst beeindruckende Metapher für einen 7jährigen dar. Ich lernte alle Witze über Legasthenie und erzählte sie besser als jeder andere. Mich über mich selbst lustig zu machen, war meine beste Verteidigung. Die anderen Alternativen – mich vor meiner Diagnose zu verstecken oder mich selbst als beschränkt zu akzeptieren – reizten mich nicht.
Glücklicherweise stellten sich Humor und harte Arbeit als gute Strategie heraus. Zudem waren meine schlauen Eltern hilfreich. Sie lasen mir oft laut vor und als sie meine Leidenschaft für Fantasy-Romane bemerkten, hörten sie einfach an der Stelle des Kapitels auf, an der es am spannendsten wurde. Dann ließen sie das Buch liegen für den Fall, dass ich selbstständig weiter lesen wollte. Es dauerte nicht lange, bis ich damit begann, Taschenbücher in den Unterrichtsraum zu schmuggeln.
Obwohl ich von der langsamen Sorte war – ich konnte nicht flüssig lesen bis ich 13 Jahre alt war – ging ich nach Yale, dann zur medizinischen Hochschule in Stanford und ich veröffentlichte zwei Fantasy-Romane mit behinderten Helden (stellen Sie sich Harry Potter in der Sonderschule vor). Zu jedem Zeitpunkt nutzte ich meine Diagnose zu meinem Vorteil, mit dem Argument, dass ich trotz meiner Legasthenie erfolgreich war. Es half mir, hervorzustechen.
Jetzt deuten immer mehr Forschungsergebnisse darauf hin, dass ich unabsichtlich gelogen habe.
Letzten Monat sah ich bei der Konferenz zu Legasthenie und Talent der Emily Hall Tremaine Stiftung, wie verschiedene Neurobiologen Beweise dafür präsentierten, dass das legasthene Gehirn, welches Informationen in besonderer Art und Weise weiterverarbeitet, ungewöhnliche Stärken verleihen könnte. Untersuchungen mit kognitiven Tests und funktionaler Magnetresonanztomographie konnten außergewöhnliches dreidimensionales und räumlich-logisches Denken bei legasthenen Personen nachweisen. Das könnte der Grund für die vielen erfolgreichen legasthenen Ingenieure sein. Ähnliche Studien haben bei Legasthenikern verstärkte Kreativität und die Fähigkeit, große Zusammenhänge zu erfassen (oder das Erfassen des wesentlichen Kerns), gezeigt. Dies wiederum korreliert mit der überraschend großen Zahl legasthener Unternehmer, Romanciers und Filmemacher.
Die Organisatoren der Konferenz betonten, dass die Erfolge der betreffenden legasthenen “Leuchten” – vom Dichter, der einen Pulitzer-Preis gewonnen hat, über einen Paläontologen, der ein McArthur Stipendium erhalten hat, bis hin zu einem Unternehmer, der jedes Jahr ein Dutzend Mal meine Studiengebühren als Steuern bezahlt – nicht trotz, sondern wegen ihrer Legasthenie erreicht wurden.
Das war eine hochinteressante Idee. Nichtsdestotrotz machte ich mir Sorgen, dass die Argumentation zu weit gehen könnte. Einige der Teilnehmer stritten sogar ab, dass Legasthenie überhaupt ein Krankheitsbild sei. Ihrer Auffassung nach würde bereits allein die Verwendung der Bezeichnung Legasthenie bedeuten, eine normale Variation des menschlichen Intellekts zu pathologisieren. Ein Vortragender forderte das Publikum sogar auf, den Satz „Legasthenie ist keine Behinderung.“ zu wiederholen.
Keine Behinderung? Meine Jahre als funktionaler Analphabet lassen auf etwas anderes schließen. Die heutige schulische Umgebung verschlimmert legasthene Schwächen. Schulen fehlinterpretieren schlechtes Buchstabieren und langsames Lesen als Mangel an Intelligenz. Typischerweise wird dieser Zustand erst dann festgestellt, wenn Schüler in ihrer Leistung abgefallen sind. Zu oft scheitern Schulen daran, legasthenen Schülern das Audio- und Videomaterial bereit zu stellen, das ihnen beim Lernen behilflich wäre. Bis diese Nachteile nicht behoben sind, beschreibt „Behinderung“ äußerst akkurat, womit junge Legastheniker konfrontiert werden.
Im Mittelpunkt der Konferenz stand die Annahme, dass eine Gruppe von Befürwortern die Definition von Legasthenie und was es heißt, Legastheniker zu sein, modifizieren könnte. Das hätte größere Auswirkungen als man vielleicht denkt. Fragen Sie sich selbst: „Welche Rolle sollten die, die von einer solchen Diagnose betroffen sind, inne haben bei der Definition eben dieser Diagnose?“ Kürzlich habe ich diese Frage an verschiedene Ärzte und Therapeuten gerichtet. Mit geringer Qualifikation ausgestattet antworteten alle: „Keine“. Ich war nicht überrascht. Üblicherweise wird eine Diagnose von unabhängigen Experten formuliert und einem Patienten auferlegt. Aber ich glaube, wir müssen unser Verständnis darüber, welche Rolle wir dabei spielen sollten, unsere eigene Diagnose zu definieren, überdenken.
Bevor ich zur medizinischen Hochschule ging, dachte ich, eine medizinische Diagnose sei gleichbedeutend mit einer Tatsache. Entweder werden die Kriterien erfüllt oder eben nicht. Manchmal ist das so. Diabetes zum Beispiel kann mit ein paar Labortests festgestellt werden. Andere Diagnosen allerdings, insbesondere solche, die den Verstand betreffen, sind deutlich unklarer. Symptome können sich widersprechen, Testergebnisse mehrdeutig sein. Darüber hinaus verändert sich die Definition fast jeder Diagnose mit der Entwicklung von Wissenschaft und Gesellschaft.
Diagnostik hat wahrscheinlich mehr mit Recht und Gesetz zu tun, als mit Wissenschaft. Die Legislative (gesetzgebende Gewalt) von Krankheiten existiert in Expertengruppen/Sachverständigengruppen, Arbeitsrichtlinien und Konsenspapieren. Manche Gesetze sind unanfechtbar, während andere fehlerhaft oder voreingenommen sein können. Dasselbe gilt für die Medizin. Denken Sie nur an die antiquierten Hysterie-Diagnosen bei Frauen. Jene, die von ungerechtfertigten Diagnosen betroffen sind - als auch die, die von ungerechtfertigten Gesetzen betroffen sind - sollten protestieren und helfen, diese neu zu definieren.
Die letzten 50 Jahre liefern etliche Beispiele für solche Neudefinitionen. Im Jahre 1978 demonstrierte Susan Sontags „Krankheit als Metapher“, wie durch das damalige Verständnis und die Beschreibung von Krebs, den Patienten selbst die Schuld an ihrer Krankheit gegeben wurde. Im folgenden Jahrzehnt begannen Aktivisten ihren Kampf, den medizinischen Berufsstand und die Gesellschaft über H.I.V. aufzuklären. Erst kürzlich hat die Bewegung für neurologische Vielfalt („neurodiversity movement“) unser Verständnis von Autismus verändert.
Ich glaube, dass wissenschaftlicher Beweis und soziale Beobachtung weiterhin zeigen werden, dass eine Beschreibung von Legasthenie, die ausschließlich auf ihren Schwächen basiert, fehlerhaft und ungerechtfertigt ist und jungen Leuten, die diese Diagnose erhalten, eine viel zu schwere Last auferlegt. Eine präzisere Definition von Legasthenie würde deutlich die Behinderungen, die damit einhergehen, identifizieren, während sie genau so die damit verbundenen Fähigkeiten anerkennt. Wenn die legasthene Gemeinschaft solch eine Definition populär machen könnte, dann würden neu diagnostizierte Legastheniker realisieren, dass sie, wie jeder andere auch, einer Zukunft mit Stärken und Schwächen entgegensehen.
Natürlich wäre es für mich auch okay, wenn sie ihren Schwierigkeiten mit schrägem Humor und Witzen übers Buchstabieren begegnen würden. Sogar, wenn ihre Witze lustiger wären als meine.
Blake Charlton, Autor der Romane “Spellwright” und “Spellbound”, wird ab Juni Assistenzarzt für Innere Medizin an der medizinischen Hochschule der Universität von Kalifornien (UCLA) in San Francisco.
Übersetzt und veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Blake Charlton.
Eine Version dieses Artikels erschien in englischer Sprache in der Print-Ausgabe der New York Edition der New York Times am 23.05.2013 auf Seite A31 unter der Überschrift: Defining My Dyslexia.
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