Vor einem Vierteljahrhundert wurde mir bewusst, dass ich verspannt durch die Gegend laufe. Seitdem habe ich immer dann, wenn und soweit es die Umstände zugelassen haben, versucht, mich nicht – ohne gute Gründe – anzuspannen. Der Wirklichkeit sei (inzwischen) Dank, die mich darin „freundlich begleitet“ hat...

 

Nun, allein der Versuch, sich nicht anzuspannen, birgt schon ein Anspannen in sich. Darüber hinaus gehört eine ganze Menge Intelligenz bzw. Wissen oder feines Spürvermögen dazu, zu erkennen, welche Umstände Anspannung wirklich notwendig machen und welche Umstände dies nur illusionär, aus einem Missverständnis heraus, erfordern.

 

Eine der größten Schwierigkeiten nämlich, problematische Anspannung zu erkennen, sind gewisse moderne Süchte, die wir alle entwickelt haben und die uns glauben machen, dass Anspannung Energie ankurbelt, uns leistungsfähiger macht - ganz zu schweigen von dem “belebenden” Gefühl, mit Adrenalin durchtränkt zu werden; sei es durch Kaffee oder Ähnliches, sei es durch seltsame mentale Techniken oder Menschenmanipulationen.

 

Nicht zu schweigen von den sogenannten Tugenden, die ich bei so vielen meiner Klienten oder Auszubildenden als tief eingraviert erlebt habe, dass z.B. ‚gut sein‘ schnell sein und/oder viel schaffen/leisten heißt, was unweigerlich zu Anspannung führen muss, da ein menschlicher Organismus aus dieser Not heraus über seine Grenzen gehen muss... Das sind „Tugenden“, die so einverleibt sind, dass sie Anspannung zu einem „natürlichen“ Zustand transmutiert haben...

 

Eine weitere Schwierigkeit, problematische Anspannung zu erkennen, ist ein unklares Differenzieren zwischen den zwei Formen von Stress: dem Eustress und dem Distress. Der Eustress, der gute Stress also, ist die natürliche Spannkraft des Lebensflusses in unserem ganzen Wesen. Der Distress, der schlechte Stress, ist die Vergiftung unseres ganzen Wesens, die aus dem Missachten und dem Verdrängen des natürlichen Fühlens, Denkens und Handelns resultiert und der dadurch „eingeklemmten“ Freiheit.

 

Leistung, Geschwindigkeit, Konkurrenz und Natürlichkeitsblindheit gedeihen in der modernen Welt und haben die meisten erfasst. Es ist unter solchen Umständen nicht verwunderlich, Eustress und Distress durcheinanderzubringen. Doch gut ...ist es deshalb immer noch nicht.

Lernen geschieht in dem Tempo, in dem die gesamte Natur schwingt; alles andere ist Gewalt. Nicht nur handeln und leben wir ungesund, wenn wir die natürliche Schwingungsweise missachten, sondern wir verpassen auch das Wichtigste: Die Fähigkeit, das Leben in seiner ganzen Pracht zu spüren und in seine wahre Intelligenz einzudringen.

 

Ich betrachte den entspannten, d.h. organismisch freien Zustand, als die wichtigste Befindlichkeit und Voraussetzung fürs Lernen. Warum? Der entspannte, freie Zustand besteht nicht in irgendeiner gewollten Tiefenentspannung oder sonst noch einer erzwungenen bzw. durch Arbeit herbeigeführten Entspannung. Er besteht in dem (psychisch und physisch) natürlichen Zustand. Was ich “tun” muss, um in diesen Zustand zu “kommen”, ist nichts zu tun, außer mein ganzes körperliches, geistiges und seelisches Wesen in seiner Natürlichkeit und Freiheit zuzulassen! Natürlichkeit und Freiheit zulassen bedeutet nicht anspannen!

 

Warum also ist der entspannte/freie Zustand so wichtig fürs Lernen? Weil nur in ihm alle unsere Anlagen aufblühen können. Weil nur in ihm unsere Intelligenz ihr volles Potential entfalten kann, da jede (di-)stressige Anspannung Teile unserer Intelligenz unterdrückt. Weil wir uns nur in ihm wohl fühlen, da wir uns in ihm natürlich fühlen. Weil wir nur in ihm das höchste Maß unseres Spürvermögens erreichen. Weil er der effektivste und lückenlose Wohlfühl- und Lernintelligenzspiegel und -kompass ist, da wir (eigentlich) wissen (müssen): Wenn wir während des Lernens (di-)stressig anspannen (müssen), dann läuft etwas schief!

 

Ich werde nie vergessen, wie offen, weich und Leben atmend das Gesicht einer meiner Klientinnen (in unseren ersten Stunden) aussah, solange sie entspannt war, und die „schmerzhafte“ Verunstaltung dieses Gesichts, immer wenn sie beim Lernen nicht weiterkam und durch Anspannung dagegen kämpfte. Es war unerträglich schmerzhaft, zuzuschauen. Und es war nicht unbedingt leicht, sie ins entspannte Lernen zu führen, denn ihre Anspannungsgewohnheit als Handlungsstrategie bei Lernproblemen war bis zu dem Zeitpunkt (sie war dreizehn Jahre alt!) zu einem häßlichen und Kräfte fressenden Monster herangewachsen. Woher kam diese Gewohnheit, diese Handlungsstrategie? Ich gehe davon aus, dass sie sie nicht selbst entdeckt, geschweige denn entschieden hatte... Dieses Verhalten war und ist bei allen, die es kennen, eine schulasthenische Konsequenz...

Schulasthenie-Korrektur im ersten Schritt bedeutet, dass der Schulende den Geschulten fühlt, und zwar so, dass jede Emotion des Geschulten so gut wie möglich fühlend wahrgenommen, jeder Schmerz des Geschulten so gut wie möglich vom Schulenden gespürt wird. Wird dies beachtet, so waltet automatisch eine höhere Intelligenz. Nennen wir sie Harmonie? Sympathie? Liebe? Nicht ihr Name ist wichtig, sondern ihre Bedeutung und Vorhandensein. Denn diese Intelligenz erst bewahrt die organismische Freiheit des Lernenden. Nur sie ermöglicht (1) die Berücksichtigung der Bedürfnisse des Lernenden, (2) die Entfaltung des individuellen Spektrums der zeitlich jeweiligen Aktualisierungstendenz des Lernenden und daher – nicht zuletzt – auch (3) unseren motivational richtigen Umgang mit dem Lernenden. 

 

Ist dieses von einem Schulenden zu erwartende Wissen, Bewusstsein und Vermögen eine hohe Maxime? Nein, es ist die selbstverständliche Maxime. Sie erscheint uns vielleicht hoch, doch nur weil wir zu dieser Wahrnehmung oder Wertung konditioniert wurden... Die organismische Freiheit als der Zustand und die Voraussetzung des Spürens und des Verwirklichens unserer Aktualisierungstendenz ist der weiseste Kompass sowohl intrapersonell für jeden von uns als auch – und im vorliegenden Kontext insbesondere – in unserem interpersonellen Umgehen mit Anderen. Im schulenden Kontext muss sie als das „heilige“ Recht des Geschulten uns die Richtung und die Weise unseres schulenden Vorgehens vorgeben.


Ioannis Tzivanakis ist Davis-Ausbilder und Autor des im Sommer 2013 erschienenen Buches "Schulasthenie", aus dem der vorliegende Artikel ein Auszug ist.

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