Ist das Buch für eine bestimmte Zielgruppe gedacht?

 

Zur Zielgruppe meines Buches gehören all diejenigen, die verstehen, wie zentral und global die Bewegung und das Verweilen unserer Aufmerksamkeit unser Leben bestimmen; in jedem Moment. Denn das, worauf wir nicht aufmerksam sind, erleben wir nicht, es existiert für uns nicht. Das andererseits, was wir erleben, weil wir darauf aufmerksam sind, ist der INHALT unseres Lebens, IST unser Leben.

 

Dessen, unseres Lebens in seiner Ganzheit also, bewusst zu werden und es in Übereinstimmung zu bringen mit dem, wie wir wirklich sind und was wir wirklich brauchen, ist so gut wie unnegierbar. Wir wollen es automatisch immer mehr, je bewusster und klarer wir es spüren und durchschauen.

 

Sie verbinden Aufmerksamkeit mit der bewussten Erfahrung und mit unserer Existenz, also indirekt mit einer Lebensweise. Es ist eine sehr umfangreiche Aussage in wenigen Worten. Welches Lebensbeispiel könnte diese Tatsache veranschaulichen?

 

Sehr viele Beispiele könnte ich anführen. Am liebsten jedoch oder als erstes, dass Kinder heutzutage einerseits überfordert werden von den Anforderungen des Bildungssystems und von den gesellschaftlichen Erwartungen und andererseits so wenig von dem bekommen, was sie brauchen, oder kaum sein dürfen, wie sie wirklich sind oder wie sie wären, wenn man sie lassen würde. Das zieht sich dann eben in sehr vielen Fällen mindestens bis ins erwachsene Alter hinein.

 

Wenn der Unterricht nicht interessant ist und die Welt dagegen so voll von anderen lebendigen und nährenden oder nährenderen Möglichkeiten, ist es dann nicht ein Zeichen von Intelligenz, wenn ein Kind diese andere Welt aufsucht? Dieses Aufsuchen äußert sich dann als Reaktion in der Klasse, durch alles, was ein Loswerden der Langeweile verspricht. Oder als Reaktion auf die immer wieder neuen oder alten und erneuten Erwartungen der Eltern, dies oder das noch zu machen oder zu sein…

 

Genauso können wir Erwachsene z.B. unzufrieden sein mit unserer beruflichen Tätigkeit. Und dann sind wir dabei entweder abgelenkt von dem, was uns gut tun kann, oder wir disziplinieren uns, konzentriert zu bleiben, und sind dann entsprechend erschöpft. Nicht nur Kinder, wir alle wollen uns lebendig fühlen, auf mehreren Ebenen genährt fühlen, uns selbst erleben in dem, wie wir sind, uns selbst entdecken in dem, wie wir durch Entfaltung dessen werden, wie wir gedacht sind zu sein.

 

Was wir brauchen und was wir sein müssen, das ist der Ausdruck von Kräften oder Energieströmen, die das Leben ausmachen. Lebendigkeit. In Liebe sein. Erschaffen. Entdecken. Verstehen. Leben. Genährt sein. Gelassen sein. Frei sein. Wenn diese Kräfte vernachlässigt werden oder unterdrückt, ob bewusst oder unbewusst, dann muss unsere Aufmerksamkeit reagieren, damit wir das, was uns fehlt, bekommen. Sowohl in der Schule, als auch im Beruf und auch in dem so entscheidenden Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen. Das ist eine der zentralen Botschaften des Buches.

 

Der Punkt, den Sie hier vorbringen, ist von größerer Bedeutung für alles, was wir im Leben erreichen wollen. Und Sie haben beschrieben, was die Probleme sind, die zu einer Defizitsituation führen können und wie diese identifiziert werden können. Eine weitere, vielleicht traurige Tatsache ist, dass viele Menschen ADHS immer noch als eine Krankheit oder einen Zustand betrachten, der durch Medikamente kontrolliert werden kann, und tägliche Medikamente dafür verwenden. Was ist Ihre Botschaft für sie?

 

Stellen wir uns ein mit Batterie betriebenes Spielzeug vor, dessen Batterie ziemlich leer ist, und das aus diesem Grund anfängt, zitterig zu werden in seiner ansonsten fließenden Bewegung oder ganze Aussetzer zu haben. Es zuckt, bewegt sich wieder etwas, dann stoppt es wieder und so fort. Was wäre hier die Diagnose? Bewegungsunfähigkeit oder mangelnde Energieversorgung? Die Antwort ist offensichtlich.

 

Und nun stellen wir uns ein Kind, einen Erwachsenen oder sogar uns selbst vor, wenn wir uns in den versorgten Phasen befinden. Warum versorgt? Weil wir emotional zufrieden sind oder etwas Interessantes tun oder erleben. In beiden dieser Fälle sind wir ziemlich dabei. Wir haben keine Aufmerksamkeitsaussetzer. Und brauchen kein Medikament.

 

Sind wir aber im Unterricht aufgefordert, etwas auszuführen oder zu verfolgen, was uns rätselhaft und undurchsichtig erscheint, und werden deshalb innerlich unruhig, und versuchen unorganisiert die Situation zu vermeiden oder geistig und emotional zu flüchten… Oder sind wir beruflich verpflichtet, einem langweiligen Vortrag zuzuhören, und kämpfen zwischen dem Noch-dabei-bleiben und dem Hinübergleiten in alle möglichen schöneren Aktivitäten, die wir gleich danach wahrnehmen werden.

 

Ob als Schüler im bezugslosen Unterricht oder als Zuhörer eines nicht auszuhaltenden Vortrags, ist hier eins der berühmten Medikamente notwendig? Kein Zweifel, dass ein entsprechendes chemisch starkes Medikament uns an die Leine nimmt und ziehen kann, unabhängig davon, ob etwas dabei inhaltlich herauskommt, jedoch: ist ein solches Medikament die Lösung? Ich gebe hier nicht die Antwort. Die muss sich jeder selbst geben. Nur eins ist sicher: wenn ich lerne, dem Unterricht inhaltlich zu folgen, weil ich etwas verstanden habe, oder wenn ich meinen Beruf wechsle oder mindestens den Bereich innerhalb meines Berufsfelds, dann ziehe ich doch das irgendeinem Medikament vor, das meine Aufmerksamkeit einfriert oder gefangen hält.

 

Einer meiner letzten Klienten sagte mir am Anfang unserer Arbeit: „Wenn ich das Medikament nicht nehme, fühle ich mich geistig lebendig, mein Denken ist kreativ, die Welt ist sooo interessanter.“

 

Wenn ich zu wenig oder zu viel Energie habe, dann ist das Problem energetisch und nicht die Aufmerksamkeit. Ich brauche eine Ausbalancierung meiner Energie.

 

Wenn ich etwas nicht beherrsche, dann brauche ich Wissen und nicht Konzentrationstraining.

 

Wenn ich ein emotionales Problem habe, dann brauche ich eine emotionale Lösung und keine Aufmerksamkeitsdressur.

 

Wenn ich keinen Sinn in etwas finde, dann muss ich den entsprechenden Teil der Welt vielleicht tiefer oder anders unter die Lupe nehmen oder völlig neu denken und wahrnehmen oder ganz lassen und einen richtigeren Weltplatz finden.

 

Wenn ich unorganisiert bin, dann habe ich die unwiderstehliche Attraktivität von Struktur noch nicht gekostet.

 

Das alles unter dem Etikett ADHS zu subsumieren, ist einfach grob und eine unnötige Kapitulation.

 

Um vielleicht meine immer länger werdende Antwort abzuschließen, möchte ich offen sagen, dass die Botschaft für all die, die sich fragen, ob ADHS eine Krankheit ist, die ist, dass ADHS eine gesunde Reaktion auf unsere eigene Selbstentfremdung ist, die wiederum aus einer Mischung von Unnatürlichkeiten resultiert, die wir erleiden.

Entweder wird uns etwas aufgezwungen, was uns nicht entspricht, oder uns fehlt etwas, was wir dringend brauchen.

Die fünf großen Bereiche, die ich eben angerissen habe, oder Kraftgeneratoren, wie ich sie nenne, in denen Überschuss oder Mangel herrschen kann, behandle ich ja im Buch. Hier nur kurz benannt: Existentielle Wirklichkeit. Emotionale Genährtheit. Energetisches Gleichgewicht. Geistige Klarheit. Wohlorganisiertes Leben.

 

Um Mark Twain zu zitieren: „Wenn unser einziges Werkzeug ein Hammer ist, dann sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.“

Für uns hier übersetzt: das Leben ist komplex bzw. reichhaltig. Für das oder für vieles, was darin schief läuft, unsere Aufmerksamkeit zu beschuldigen, ist mindestens vermessen.


Dies ist nur ein Auszug. Alle Fragen und Antworten finden Sie hier: www.tzivanakis.com/deutsch/adhsentschluesselt/fragen-und-antworten