Dieser Artikel ist die Zusammenfassung einer Präsentation von Ioannis Tzivanakis am europäischen Fachtag der zertifizierten Davis-BeraterInnen in Florenz, Italien, im November 2016, mit dem Titel: Neue Perspektiven zu ADHS.
INHALT: 1. Das Spektrum ADHS: Ursachen und Behandlung - 2. Theorie des Geistes und ADHS - 3. ADHS und neue Studien - 3.1 ADHS oder bloße Unreife? - 3.2 ADHS erst im Erwachsenenalter... - 3.3 ADHS durch höhere oder unangemessene Anforderungen? - 3.4 ADHS durch zu kritische Eltern?
Es wird allgemein angenommen, dass ADHS eine Sammelbezeichnung für ein Spektrum von "Problemen" darstellt. Diese Probleme haben einmal mit Impulsivität zu tun oder mit der Schwierigkeit, das Verhalten, das Denken und das Handeln zu kontrollieren. Des Weiteren gibt es Hyperaktivitätsprobleme, eine überschüssige Energie also, die mit einem von der Norm abweichenden größeren Bewegungsdrang einhergeht. Auch wenn manchmal das Gegenteil der Fall ist, also Hypoaktivität, nämlich ein Energielevel, der niedriger ist, als notwendig für die jeweilige Situation oder Aktivität. Und nicht zuletzt steht das 'A' für die Schwierigkeit, aufmerksam zu sein, oder lange genug aufmerksam zu sein, worauf man aufmerksam sein möchte... oder sollte!
Was die Ursachen der ADHS-Enstehung angeht, herrscht keine absolute oder endgültige Klarheit. Vielmehr wird angenommen, dass eine breitere Kombination unterschiedlicher Faktoren verantwortlich sein muss. Dazu zählen genetische Faktoren oder bestimmte Gehirnregionen, die für das jeweilige Alter zu klein sind oder etwas später entwickelt werden. Für einen altersentsprechenden Reifegrad des Gehirns werden laut Forschungsergebnissen aus den letzten Jahren zwei bis drei zusätzliche Entwicklungsjahre benötigt. Ferner wird von einer unangemessenen Arbeitsweise oder von einem Ungleichgewicht der entsprechenden Neurotransmitterchemie gesprochen bzw. von einem Dopaminmangel.
Zur Behandlung werden in solchen Fällen Stimulanzien vorgeschlagen, die die Dopamin- und Norepinephrinmenge im Gehirn erhöhen. Solche chemischen Substanzen also, die eine wichtige Rolle beim Denken und Aufmerksam sein spielen. Für die Bewältigung der Alltagsprobleme, die mit ADHS einhergehen, wird oft auch Psychotherapie eingesetzt. Beispiel Verhaltenstherapie: Hier wird versucht, der betreffenden Person beim Bewältigen organisatorischer Aufgaben, ob in der Schule, zu Hause oder am Arbeitsplatz praktische Hilfe anzubieten. Bei der kognitiven Verhaltenstherapie werden auch Achtsamkeit oder Meditationstechniken angeboten. Nicht zuletzt wird manchmal auch eine allgemeinere und allumfassendere Familientherapie empfohlen, bei der alle involvierten Familienmitglieder umlernen, wie sie mit ihrer Kommunikation und ihrem Verhalten die betreffende Person unterstützen können.
Im Allgemeinen wird empfohlen, sich täglich zu organisieren: mit einem Zeitplan, mit einer wiederkehrenden Struktur und Routine, Erinnerungshilfen fürs Notieren der zu erledigenden Aufgaben, sodass Klarheit und Beständigkeit gewährleistet bzw. ermöglicht werden.
Auch wenn die Formulierung der Theorie des Geistes oder ToM (Theory of Mind) schon ein paar Jahrzehnte alt ist und schon im Bereich Autismus von Simon Baron-Cohen und anderen seit den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts als sehr signifikant eingeschätzt wird, wächst ihre Bedeutsamkeit fürs Verstehen und Behandeln von ADHS ständig.
Eine Theorie des Geistes zu haben, meint die Fähigkeit, sowohl sich selbst als auch Anderen, Zustände wie Gedanken, Gefühle, Absichten, Wünsche, Pläne, Hoffnungen und mehr zuzuschreiben; die Fähigkeit also, diese Zustände wahrzunehmen, zu spüren, zu verstehen. Die Theorie des Geistes wird als Theorie bezeichnet, da solche Zustände nicht direkt beobachtbar sind.
Zum Beispiel wurde bei ADHS-Kindern im Alter zwischen 8 und 12 Jahren festgestellt, dass sie beim Anwenden exekutiver Funktionen ein problematisches oder niedrigeres Niveau zeigen. Bei solchen Funktionen also, die eine höhere Denkfähigkeit erfordern und eine vollständigere Entwicklung einer Theorie des Geistes bedeuten (Executive and attentional contributions to Theory of Mind deficit in attention deficit/hyperactivity disorder (ADHD), Child Neuropsychology, 2016; 22(3): 345-65). Dazu zählen die Fähigkeit, Handlungen zu planen oder die eigenen Emotionen angemessen zu kontrollieren sowie das Arbeitsgedächtnis, die Aufmerksamkeitskontrolle und auch die kognitive Flexibilität, die Fähigkeit also, sich leicht und erfolgreich zwischen unterschiedlichen begrifflichen Bereichen zu bewegen, wie z.B. zwischen der Farbe, der Anzahl, Größe oder Form von Gegenständen.
Es ist also sehr wichtig, Personen oder Kindern, die eine ausreichende Theorie des Geistes entwickeln sollen, dadurch zu helfen, dass ihnen Verhalten erklärt und gezeigt wird.
Indem man z.B. die betreffende Person fragt, was die Konsequenzen oder Wirkungen des eigenen Verhaltens auf andere sind: "Du hast ihn ausgelacht. Wie würdest Du Dich fühlen, wenn er Dich ausgelacht hätte?"
Für ein Wachsen der sozialen Intelligenz ist das Einnehmen der Perspektive anderer Personen unablässig und sollte bei den entsprechenden Situationen kontinuierlich gefördert werden.
Über eine notwendige regelmäßige Überprüfung des Problemverhaltens eines ADHS-Kindes sollte man nicht versäumen, die erfolgreichen sozialen Interaktionen des Kindes hervorzuheben, zu loben und erneut zu veranlassen.
FAZIT: Während ein Kind mit typischer Entwicklung soziales Verhalten versteht und zeigt, braucht ein ADHS-Kind spezifische, genaue und verständliche Anweisungen. Eine ungenügend entwickelte Theorie des Geistes erfordert Unterstützung bei der Entwicklung der intrapersonellen Intelligenz, des Selbstspürens und -verstehens also, wie auch der interpersonellen oder sozialen Intelligenz.
ADHS ist ein komplexes Phänomen, da sowohl die Aufmerksamkeit als auch das Verhalten im Allgemeinen von unterschiedlichen Faktoren innerhalb aller Dimensionen des menschlichen Seins beeinflusst
werden kann. Daher ist es mehr als begrüßenswert und erkenntnisreich, die Ergebnisse der kontinuierlichen Forschung zur Kenntnis zu nehmen.
3.1 ADHS oder bloße Unreife?
Eine sich mehr und mehr durchsetzende Erkenntnis in der Forschung der letzten Jahre ist die Tatsache, dass die allgemeine geistige Entwicklungsreife bei ADHS-Personen anders bzw. langsamer
verläuft. Für Richard Morrow von der British Columbia Universität in Victoria (Kanada) haben Schulkinder, die zu jung sind für ihre
Schulklasse, ein größeres Risiko, als ihre älteren Mitschüler, eine ADHS-Diagnose zu erhalten.
Darüber hinaus können Kinder, die alt genug sind für ihre Schulklasse, trotzdem noch nicht die entsprechende geistige Reife haben, die für die Anforderungen dieser Schulklasse notwendig ist.
In beiden Fällen, zu frühe Einschulung oder zeitgleiche Einschulung bei verzögerter geistiger Entwicklung, sollte deshalb die Frage gestellt werden: Was ist wichtiger? Schneller oder rechtzeitig die Schule zu beginnen und dann mit einem entsprechenden Alter zu beenden, mit dem Risiko einer ADHS-Diagnose und -Behandlung oder das Kind rechtzeitig zu verstehen und ihm die notwendige Zeit zu geben, sodass zwar die Schule später begonnen wird, aber dafür die entsprechende Reife von Anfang an ein kompetentes Aufmerksamsein, Verhalten und Lernen ermöglicht?
3.2 ADHS erst im Erwachsenenalter...
Auch wenn das gewöhnliche Bild, das man mit ADHS verbindet, Kinder zwischen einem jungen Alter und der Pubertät sind, und auch wenn man von vielen ADHS-Fällen weiß, dass sich die entsprechenden Symptome bis zum Erwachsenenalter hinein tragen, gibt es nun inzwischen verstärkte Hinweise, dass es ADHS-Fälle gibt, die ohne irgendeine Vorgeschichte überhaupt erst im Erwachsenenalter entstehen.
Forscher vom Londoner King's College fanden heraus, dass 70% der jungen Erwachsenen mit ADHS, die sie in ihrer Studie untersucht haben, die ADHS-Kriterien in den vergangenen Untersuchungen in ihren jungen Jahren nicht erfüllt hatten. Das wirft Fragen hinsichtlich der Ursachen für die ADHS-Entstehung auf, da die Ursachen für die ADHS-Entstehung im Erwachsenenalter andere sein könnten als die für ADHS im jungen Alter.
In den Worten von Prof. Louise Arseneault: "Unsere Forschung wirft ein neues Licht auf die Entwicklung und den Beginn von ADHS, aber sie generiert viele Fragen über ADHS, das nach der Kindheit entsteht. Wie ähnlich oder anders ist später entstehendes ADHS im Vergleich zu ADHS, das in der Kindheit beginnt? Wie und warum entsteht später auftauchendes ADHS? Welche Behandlungen sind am effektivsten für später entstehendes ADHS? Das sind die Fragen, die wir jetzt versuchen sollten, zu beantworten."
3.3 ADHS durch höhere oder unangemessene Anforderungen?
Einen möglichen Zusammenhang zwischen einer gewachsenen oder stetig anwachsenden ADHS-Verbreitung und höheren Lernanforderungen (im Vergleich zu früherer Zeit), stellt Jeffrey P. Brosco, Professor für klinische Pädiatrie in der Miller School Of Medicine an der Universität von Miami, fest.
Sowohl die konkrete Lernzeit für die Schule als auch allgemeine Bildungskriterien sind in den letzten 40 Jahren deutlich gewachsen. In derselben Zeit haben sich ADHS-Fälle verdoppelt.
Die Unterrichtszeit für Buchstaben und Zahlen für Kinder im Alter zwischen 3 und 5 Jahren hat sich von 1981 bis 1997 um 30% erhöht. Die Zeit der Teilnahme junger Kinder an Ganztags-Programmen hat zwischen 1970 und 2000 von 17% auf 58% zugenommen.
Ein 6-8-Jähriger hat 1997 mehr als 2 Stunden in der Woche mit Hausaufgaben verbracht. Ein Jahrzehnt früher betrug die entsprechende Lernzeit weniger als eine Stunde.
"Wir fühlen, dass die akademischen Forderungen, die an junge Kinder gestellt werden, einen Teil von ihnen negativ beeinflussen. Beginnt der Kindergarten zum Beispiel ein Jahr früher, verdoppelt dies die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind Medikamente für Verhaltensprobleme benötigen könnte." Brosco fügt hinzu, dass in einem solchen Alter mehr Zeit fürs Spielen, für soziale Beziehungen und das Anregen der Phantasie sein sollte.
3.4 ADHS durch zu kritische Eltern?
In einer weiteren Studie, geführt von Erica Musser, Assistenzprofessorin an der Florida International University, wurden über drei Jahre lang 388 Kinder mit ADHS und 127 ohne ADHS sowie die
Familien all dieser Kinder untersucht. Die beteiligten Forscher maßen sowohl die Veränderung der ADHS-Symptome der Kinder als auch das Ausmaß der Kritik und der emotionalen Einwirkung seitens der Eltern.
Bei vielen Kindern mit ADHS-Symptomen werden diese Symptome mit zunehmendem Alter weniger oder verschwinden sogar ganz, während bei anderen Kindern dies nicht der Fall ist. Der oben genannten Forschungsstudie zufolge, die von der American Psychological Association veröffentlicht wurde, scheint ein gewichtiger Grund dafür zu sein, dass die Eltern dieser Kinder kritisch oder kritischer sind. "Die Feststellung hier ist, dass Kinder mit ADHS, deren Eltern regelmäßig ein hohes Maß an Kritik äußerten, im Laufe der Zeit mit geringerer Wahrscheinlichkeit einen Rückgang der Symptome erleben konnten", sagt Erica Musser.
Nur anhaltende elterliche Kritik schien mit der Kontinuität der ADHS-Symptome bei den mit ADHS diagnostizierten Kindern in Zusammenhang zu stehen.
Einsichten aus der Forschung – Regelmäßig: www.tzivanakis.com/deutsch/einsichten-aus-der-forschung-2/
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