Als Davis-Beraterin in Frankreich und Mutter eines legasthenischen und hochbegabten Sohnes halte ich stets Ausschau nach NEUEN Büchern über Legasthenie. „The Dyslexic Advantage“ („Der legasthenische Vorteil“) wurde mir von meinem Vater empfohlen. Er erzählte mir, dass dies DAS interessanteste Buch über Legasthenie sei, das in Großbritannien momentan erhältlich sei. So bestellte ich für mich eine Ausgabe und war angenehm überrascht davon, was es auf den Seiten zu lesen gab.
Ich muss zugeben, dass mich das Buch ziemlich beeindruckte. Sowohl Brock L. Eide als auch Fernette F. Eide (die Autoren des Buches) lassen eine sehr positive Einstellung gegenüber dem erkennen, was sie als die „Vorteile“, „Gaben“ oder sogenannten "MIND-Strengths" ("GEISTES-Stärken") bezeichnen, welche viele legasthenische Personen an den Tag legen. Die Lernherausforderungen werden gleichzeitig als „Lohn“ für ihre Talente gesehen. Ich war begeistert, auf solch ein positives Denken zu stoßen. Darüber hinaus beinhaltet dieses Buch eine beträchtliche Menge an nützlichen Informationen für Eltern von legasthenischen Kindern wie mich selbst, die stets bereit sind, sich auf jegliche Tipps oder praktische Hinweise zu stürzen, wie sich Schule und Studium „überleben“ lassen. Ich freute mich sehr, Kapitel zu entdecken, die sich Universitätsstudien und dem professionellen Leben als legasthenischen Erwachsenen widmeten. Denn dies sind Themenbereiche, die nicht genug Beachtung finden. „The Dyslexic Advantage” ist interessant und einfach zu lesen. Ich würde es jeder Person wärmstens empfehlen, die nach Informationen über Legasthenie sucht.
Allerdings war ich ein wenig überrascht, zu lesen, dass der Gedanke, Legasthenie als eine Art „Gabe“ zu betrachten, als NEUES oder PARADIGMEN SPRENGENDES Konzept angesehen wird. Ron Davis bekräftigt genau diese Tatsache nun seit mehr als zwanzig Jahren. Sein bahnbrechendes Buch, das 1994 in Amerika veröffentlicht wurde, heißt „Legasthenie als Talentsignal“ und in den ersten Kapiteln geht es um „das Talent, auf dem Legasthenie beruht“.
Ron Davis sprach bereits damals von „der ungewöhnlichen Gabe und dem außerordentlichen Potential von Legasthenikern“.
Ist es deshalb wahr, Folgendes zu behaupten: „In diesem Buch werden wir Gründe für eine radikale Revision des Legasthenie-Konzepts anführen: eine „kopernikanische Wende“, welche vielmehr Fähigkeiten als Behinderungen in das Zentrum unserer Vorstellung davon stellt, was es bedeutet, legasthenisch zu sein.“? Ist das wirklich solch eine NEUE oder originale Art und Weise, Legasthenie zu betrachten? Sicherlich nicht für einen Davis-Berater oder eine Davis-Beraterin.
„The Dyslexic Advantage” gibt viele großartige Beispiele anhand von Anekdoten aus dem realen Leben von Menschen, die ihre legasthenischen „Talente“ nutzten, um erstaunliche Lebensziele zu erreichen.
Bereits auf den ersten Seiten des Buches „Legasthenie als Talentsignal“ erklärt Ron Davis dazu Näheres:
„Bei einem Fernsehinterview wurde ich einmal nach der „positiven“ Seite der Legasthenie gefragt. Als Teil meiner Antwort zählte ich etwa ein Dutzend berühmter Legastheniker auf. Die Gastgeberin bemerkte daraufhin: „Ist es nicht erstaunlich, dass alle diese Leute Legastheniker waren und trotzdem Genies sein konnten?“ Ihre Bemerkung schoss haarscharf am Ziel vorbei. Diese Leute waren nicht Genies trotz ihrer Legasthenie, sondern gerade wegen ihrer Legasthenie!“
Beim Lesen von „The Dyslexic Advantage“ konnte ich nicht anders als durchwegs die vielen Parallelen zwischen diesem angeblichen NEUEN Konzept von Legasthenie und der Davis-Methode festzustellen. Zum Beispiel wird in „The Dyslexic Advantage“ über die Stärken von M gesprochen:
„M besitzt als eine seiner Stärken typischerweise hervorragende Fähigkeiten im … räumlichen Denken. Die Art des räumlichen Denkens, worin sie (Legastheniker) sich auszeichnen, umfasst das Erschaffen einer zusammenhängenden Serie von geistigen Perspektiven, die in der Natur dreidimensional sind - wie eine virtuelle 3-D-Welt im Kopf. Diese Art von Fähigkeit, eine räumliche „Wirklichkeitswelt“ zu schaffen, kann enorm wertvoll sein…“
Auch Ron Davis spricht von vielschichtigem Denken und der erstaunlichen Fähigkeit, sich Dinge dreidimensional vorzustellen, über die einige Legastheniker verfügen:
„Ein Aspekt des vielschichtigen Denkens ist die Fähigkeit, Gedanken als reale Vorgänge zu erleben. Die Realität ist das, was wir erleben. … Unsere Gedanken werden zu unseren Wahrnehmungen, zu unserer Realität.“
Dann fährt Ron Davis damit fort, zu zeigen, inwiefern dieses Talent „wertvoll“ sein kann:
„Diese Vorstellung hilft uns verstehen, wie Leonardo da Vinci 300 Jahre vor der Erfindung der erforderlichen Wasserpumpe die Idee eines Unterseeboots und 400 Jahre vor der Erfindung eines passenden Motors die Idee eines Hubschraubers entwickeln konnte. … Sein Talent vielschichtiger Wahrnehmung befähigte ihn, seine Gedanken als Realitäten zu erfahren und für jedermann in seinen Zeichnungen sichtbar zu machen.“
Ron Davis erklärt oft, dass legasthenische Personen überwiegend Bilddenker sind. Sie besitzen oft die Fähigkeit, in ihrer visuellen Vorstellung herumzuwandern und Objekte aus mehreren verschiedenen Winkeln zu betrachten. Dieses „Talent“ ist für Ingenieure, Architekten oder Artisten natürlich äußerst wertvoll, aber es könnte Verwirrung verursachen, wenn ein zweidimensionales gedrucktes oder handgeschriebenes Wort auf dieselbe Weise gelesen wird.
Tatsächlich stieß ich beim Lesen von „The Dyslexic Advantage” auf eine Anekdote, die von einer legasthenischen Person stammte und besagt:
„Meine Denkweise ist sehr visuell, ich kann alles in Bildern sehen und ich visualisiere Dinge immer. Ich kann nicht anders. Ich ticke einfach so. Über was Ihr auch immer sprecht, ich werde in meinem Kopf Bilder sehen, sehr lebendig, farbenfroh, lebensechte Bilder. Ich kann sie in Bewegung setzen. Wirklichkeit, Fiktion, was auch immer. Ich muss das bildhafte Denken wirklich zurückholen, um fokussiert zu werden.“ (Oder wie Davis sagen würde, um orientiert zu werden!!!)
Beim Lesen dieser Passage fielen mir sofort die Ähnlichkeiten zwischen dem, was hier beschrieben wird, und der Davis-Methode auf. Ron Davis legt in „Legasthenie als Talentsignal” dar, dass diese „Gabe“ des bildhaften Denkens zu Schwierigkeiten führen kann, wenn sie bei Buchstaben und Wörtern angewendet wird. Die Vorstellung, „das bildhafte Denken“ wirklich „zurückholen“ zu müssen, stimmt vollkommen mit der Orientierungs-These von Ron Davis überein. Die Orientierung ist ein Werkzeug, das dem Legastheniker hilft, Kontrolle über diese angeborenen Prozesse zu bekommen, die Perspektiven zu wechseln oder seine Vorstellung mit sich selbst weglaufen zu lassen. Orientierung hilft einer Person, zu wissen, wo er oder sie ist im Bezug auf seine/ihre wirkliche Umwelt. Desorientierung „könnte Intuition, Erfindung oder Inspiration genannt werden. Wenn es zur Unterhaltung gemacht wird, heißt es Fantasieren oder Tagträumen“.
Wenn wir uns desorientieren, werden unsere Sinne und Wahrnehmungen laut Ron Davis verzerrt. Zum Beispiel nehmen wir nicht klar wahr, was unsere Augen wirklich sehen, sondern das, von dem wir „denken“, dass es unsere Augen sehen. Wir „hören“ nicht exakt, was unsere Ohren wirklich hören, sondern das, von dem wir „denken“, dass es unsere Ohren hören. Wenn wir versuchen, zu lesen, zu schreiben oder jemandem zuzuhören, während wir uns im desorientierten Zustand befinden, besteht die Möglichkeit, dass wir Fehler machen werden: Buchstaben verwechseln oder das Gesagte falsch verstehen.
Diese Theorie wird sehr klar von derselben Person wie oben verdeutlicht, wenn sie erzählt, wie sie das Leben in der Schule empfand:
„Im Klassenzimmer war es ein Problem. Ich saß dort und stellte mir vor, wo ich sein wollte, was ich werden wollte, und ich hatte glückliche Gedanken und ich war in der Klasse die ganze Zeit einfach ausgeschaltet. Ich saß dort nickend und lächelnd, aber tatsächlich fragte ich mich „Über was redet ihr da?“.“ (Er befand sich eindeutig in einem desorientierten Zustand verursacht durch Verwirrung oder Langeweile.)
Ron Davis sagt, dass Legastheniker die Desorientierung nutzen, um Verwirrung durch Objekte aufzulösen oder um diese aus verschiedenen Winkeln betrachten zu können:
„Aber wenn er ein gedrucktes oder geschriebenes Wort rückwärts liest oder seine Teile verdreht oder vermischt, sieht das Wort leider nur noch unklarer aus.“
Diese Auffassung wird in den Aussagen des legasthenischen Künstlers Sebastian Bergne einmal mehr geteilt, der in „The Dyslexic Advantage” Folgendes beschreibt:
„Wenn ich ein Objekt entwerfe, kenne ich die exakte Form in 3D. In meinem Kopf kann ich um das Objekt herumgehen, bevor ich es zeichne. Ich kann mir auch eine andere Lösung für dasselbe Problem vorstellen. Während diese Vorstellungsflexibilität nützlich sein kann, wenn Du versuchst, einen Stuhl oder eine Teekanne zu entwerfen, ist sie weniger hilfreich, wenn Du versuchst, Symbole auf einer zweidimensionalen Fläche zu lesen.“
Ich sollte an dieser Stelle erwähnen, dass zwischen den Sichweisen, die in „The Dyslexic Advantage“ und in „Legasthenie als Talentsignal“ dargestellt werden, ein Unterschied bezüglich des Themas „Buchstabenverdrehungen“ besteht. Ron Davis legt dar, dass diese Fehler als eine Folge von Desorientierung (einer Verzerrung der Wahrnehmung des Legasthenikers) geschehen, während in „The Dyslexic Advantage” vorgebracht wird, dass diese Fehler durch spiegelbildliche Ansichten verursacht werden, die in der rechten und auch in der linken Hemisphäre des Gehirns erzeugt werden:
„Wenn Du versuchst, die Ausrichtung von gedruckten Symbolen - oder irgendeiner anderen Sache mit einem natürlichen Spiegelbild, wie einem Schuh oder Handschuh - zu erkennen, wird diese Fähigkeit, Spiegelbilder zu erzeugen, leider zu einer Last. Bevor ein Kind ein Bild von seinem Spiegelbild sicher unterscheiden kann, muss er oder sie lernen, die Erzeugung seines Spiegelbilds zu unterdrücken… Wenn Kinder Schreiben lernen, werden viele nicht nur Symbole umkehren, die wahre Spiegelbilder haben (wie p/q oder b/d), sondern im Wesentlichen alle Buchstaben oder Zahlen.“
„The Dyslexic Advantage” fährt fort, die Art, wie wir Legasthenie betrachten, mit jemandem zu vergleichen, der gerade ein Teleskop entdeckt hat und sich nicht sicher ist, durch welches Ende des Gerätes er schauen soll. Soll er sich für die „enge Sicht“ oder die „breitere Sicht" entscheiden? Die enge Sicht wäre, nur die Herausforderungen in Betracht zu ziehen, mit denen Legastheniker beim Lesen und Schreiben konfrontiert werden, während die breitere Sicht wäre, die legasthenische Person in ihrer Gesamtheit zu sehen:
„Wie soll dieses Teleskop benutzt werden? Soll es als Werkzeug benutzt werden, um unsere Sicht auf Bildungs-, Sprach- und Lernschwierigkeiten lediglich einzuengen? Oder soll es „herumgedreht“ werden, so dass wir all die Lern- und Entwicklungsbesonderheiten dieser erstaunlichen Personengruppe sehen können: nicht nur in den Bereichen Bildung und Sprache, sondern die gesamte Spannbreite ihrer Aktivitäten umfassend - Stärken genauso wie Herausforderungen - und über ihre gesamte Lebensspanne hinweg?“
Diese Weise, sich vielmehr auf die „Talente“ und Fähigkeiten legasthenischer Personen zu konzentrieren als Legasthenie lediglich als ein Problem beim Lesen und Schreiben zu interpretieren, ist für uns alle, die mit der Davis-Methode vertraut sind, keine Neuigkeit. Ron Davis sieht Legasthenie als eine Gabe und nicht nur als eine Lernschwierigkeit:
„Eine von Rons durchschlagendsten Ideen ist, dass Genialität nicht trotz Lernschwierigkeiten, sondern aufgrund von ihnen entsteht.“
Ron Davis sieht Legasthenie als „das Ergebnis eines Wahrnehmungstalents“ und er stellt auch fest, dass der Gebrauch dieses „Talents“ beim Lesen oder Schreiben zu Problemen führen kann. Folglich scheint diese Sichtweise auf Legasthenie nichts Neues zu sein. Denn genau diese Sichtweise lässt sich als das Herzstück der Davis-Methode finden.
Ron Davis erklärt im Folgenden ziemlich klar:
„Und sie (Legastheniker) sollten auch wissen, dass sie nicht dumm oder unbegabt sind, nur weil sie ein Problem mit dem Lesen, Schreiben und Rechnen haben. Dieselbe geistige Funktion, die Genialität erzeugt, erzeugt auch die Legasthenie.“
Ich vermute, dass sich Ron Davis viele Jahre früher dazu entschieden hat, durch dieses „Teleskop“ zu blicken, um die „weitere Sicht“ von Legasthenie zu erkennen.
In „The Dyslexic Advantage“, wenn über die „Trade-offs with D-strengths“ („Kompromisse zusammen mit Dynamikstärken“) und „Insight“ („Einblick“) gesprochen wird, gibt es eine Passage, in der erklärt wird, dass ein mentaler Entspanntheitszustand erforderlich ist, um einen Zugang zu dieser intuitiven Denkweise zu bekommen:
„In der ersten Phase konzentriert sich der Geist aktiv auf das vorliegende Problem und legt die Frage fest, die beantwortet werden soll. Dieser höchst zielgerichteten Phase schließt sich schnell eine Erholungsphase an, in der der Geist seine Fokussierung verliert und zu wandern beginnt. Dr. Beeman hat diese Phase so beschrieben: „Es findet eine gesamte Beruhigung der Gehirnvorgänge statt, weil der Geist versucht, alles zu beruhigen und darauf wartet, dass etwas herausspringt.“ “
Nun, alle Davis-Berater und Davis-Beraterinnen wissen, wie wichtig Ruhe ist, damit Dinge „herausspringen“ dürfen und Ron Davis spricht hier vom „Loslassen“. Dieser spannungsfreie Zustand spielt in der Davis-Methode eine Schlüsselrolle. Ich war somit begeistert, in „The Dyslexic Advantage“ folgendes Zitat zu finden:
„Das Denken funktioniert am besten, wenn wir uns in einem spannungsfreien Zustand befinden. Sobald wir Angst und Druck oder Stress spüren, funktioniert unser Denken nicht effektiv. Der Gedanke, „Kraft“ zu nutzen oder Spannung zu erzeugen, wird als unnötiges Übel angesehen.“
Zum wiederholten Male stelle ich fest, dass sich die Theorien und Ideen von Ron Davis scheinbar nicht von denen unterscheiden, die in „The Dyslexic Advantage“ vorgebracht werden.
Der Prozess, bei dem „der Geist seine Fokussierung verliert und zu wandern beginnt“, um nach einer Lösung für ein Problem zu suchen, korrespondiert mit dem, was Ron Davis als „Desorientierung“ bezeichnet. Erneut finde ich, dass sich die Davis-Methode dieser Tatsachen seit einiger Zeit bewusst ist.
Darüber hinaus gibt es in „The Dyslexic Advantage” einige faszinierende Seiten zu den Forschungsergebnissen von Dr. Hassabis über „N-Strengths“ („Erzählstärken“) zu lesen:
„Kürzlich fanden wir heraus, dass die Nutzung von Vorgangskonstruktionen zum Abrufen der Vergangenheit gerade mal ein kleinen Teil eines viel größeren Systems ausmacht, welches episodisches Simulationssystem genannt wird. Die episodische Simulation ist sehr leistungsstark, da sie ermöglicht, dass das Gedächtnis kreativ genutzt wird.“
Auch Ron Davis legt sehr großen Wert darauf, Kreativität in den Lernprozess zu integrieren. Bei der Davis-Arbeit „erschaffen“ Legastheniker Wörter aus Knete. Dies ermöglicht diesen keine abstrakte, sondern eine vielmehr wirkliche „praktische“ positive und konkrete Erfahrung mit Wörtern, welche sie sowohl interessant als auch unterhaltsam finden. Ich war erstaunt zu sehen, wie mein Sohn 3D-Modelle von Wörtern aus Knete schaffte. Er konnte sich an das gesamte Erlebte erinnern und, was von noch größerer Bedeutung war, er konnte sich sogar an die Schreibweise dieser Wörter erinnern; damit hatte er sich so viele Male zuvor erfolglos abgemüht. Endlose Wiederholungen waren nicht nötig, die Wörter wurden „gemeistert“ und als Teil einer Erfahrung in seinem Gedächtnis abgespeichert, wie eine Miniszene eines vergangenen Geschehens in seinem Kopf.
Ron Davis schreibt:
„Wir Menschen machen gern angenehme Erfahrungen, und es fällt uns leicht, uns an sie zu erinnern.“
Deshalb fand ich es sehr interessant, von Dr. Hassabis zu lesen, und ich muss zugeben, dass ich mich frage, ob die Davis-Symbolbeherrschung, im Falle meines Sohnes und vieler anderer, die Erzählstärken bestimmter Legastheniker ausspielen könnte, da die Knetmodelle, die von gemeisterten Wörtern und Konzepten kreiert wurden, eine lebensechte, konkrete „Erfahrung“ schaffen, so dass sie sich leichter einprägen:
„Wir fanden heraus, dass eine große Mehrheit der Personen mit Legasthenie die meisten Aufgaben lieber episodisch als semantisch erinnerten. Dies zeigt sich mehrfach sowohl in klinischen Studien als auch im wirklichen Leben. Eine dargelegte Vorgehensweise besteht darin, konzeptionelles und verbales Wissen tendenziell lieber in Form von szenischen Darstellungen oder Beispielen als in Form von abstrakten verbalen Definitionen zu speichern.“
Wie in „The Dyslexic Advantage”, spricht Ron Davis in „Legasthenie als Talentsignal“ über die Kreativität, die Wissbegier und den Gebrauch einer globaleren Denkweise, welche die meisten Legastheniker besitzen. Er erklärt auch den Unterschied zwischen Konzentration und Aufmerksamkeit. Für Ron Davis sind legasthenische Kinder äußerst wissbegierig:
„Wenn legasthenische Kinder in einem Klassenzimmer sitzen und draußen ein Geräusch hören oder wenn sich etwas am Fenster vorbeibewegt oder ein Mitschüler in der nächsten Reihe etwas fallen lässt, dann wendet ihre Aufmerksamkeit sich sofort dorthin. … weil er den Vorgang bemerkt und neugierig wird, was es sein könnte.“
Nach der Davis-Methode wird Konzentration so verstanden, dass man seine Aufmerksamkeit für einen bestimmten Zeitraum auf einen Ort oder auf eine einzelne Sache richtet. In „The Dyslexic Advantage” wird hingegen folgende Ansicht bekräftigt:
„Wenn jemand aufmerksam ist, breitet sich seine oder ihre Wahrnehmung aus, sie kann die gesamte unmittelbare Umgebung erfassen. Wenn sich jemand konzentriert, ist seine oder ihre gesamte, oder meiste, Aufmerksamkeit auf nur eine Sache in der unmittelbaren Umgebung fixiert.
Die Davis-Methode setzt gezielt darauf, die „Stärken“ und „Gaben“ von Legasthenikern als Hilfe zur Überwindung ihrer Lernschwierigkeiten zu nutzen, genauso wie „The Dyslexic Advantage” das tut. Ron Davis ist selbst Legastheniker und kennt demzufolge nur allzu gut den schmerzlichen Kampf von vielen dieser begabten Personen durch ihr Schulzeit hindurch. Die Davis-Methode respektiert Legastheniker und ist darum bemüht, ihr zerbrochenes Selbstvertrauen wiederaufzubauen, indem ihre Talente und Stärken ausgespielt werden. Der Berater passt sich während eines Davis-Programms an, um allen möglichen individuellen Bedürfnissen und persönlichen Zielen eines Legasthenikers gerecht zu werden. Dadurch stellt die Davis-Methode eine völlig neue Umgangssweise mit dem gesamten Thema „Legasthenie“ dar.
Obwohl es in manchen Aspekten, die in „The Dyslexic Advantage” und in der Davis-Methode zum Ausdruck gebracht werden, leichte Unterschiede gibt, ist meiner Meinung nach eine erstaunliche Anzahl von Gemeinsamkeiten vorhanden. Während ich gegen die Aussagen in „The Dyslexic Advantage” nichts einzuwenden habe, finde ich es sehr schade, dass es so lang gedauert hat, bis gewisse Einsichten, die nun seit vielen Jahren einen zentralen Teil der Davis-Methode ausmachen, aufgenommen und anerkannt wurden. Auch wenn „The Dyslexic Advantage” mit einigen Thesen von Ron Davis übereinzustimmen scheint, spielt es gleichzeitig die Wichtigkeit und Effektivität der Davis-Methode durch folgende Aussage herunter:
„Mit bestimmten Aspekten dieses Buches („Legasthenie als Talentsignal“) und der Davis-Methode gehen wir nicht vollständig konform und viele dieser theoretischen Ideen scheinen der Wahrheit nicht nahe zu kommen, aber die praktische Vorgehensweise, Buchstaben und Wörter als 3-D-Modell darzustellen, und das Wissen über die von Davis sogennanten „Auslösewörter“ sind oft sehr hilfreich und anderweitig nicht gut erfasst.“
Tatsächlich würde ich behaupten, dass die meisten Thesen, die der Davis-Methode zugrunde liegen, auf den Seiten von „The Dyslexic Advantage” bestätigt werden, und dass es großartig zu sehen ist, dass Davis genauso wie Leonardo da Vinci seiner Zeit weit voraus war. Es erscheint merkwürdig, dass seine Ergebnisse erst jetzt, lange nach der Veröffentlichung seines Buches „Legasthenie als Talentsignal“, bei anderen Beachtung finden.
Meriel Chehab
Finden Sie den Inhalt interessant und möchten ihn gerne teilen?
Einfach auf einen der Buttons klicken!