Manche visuell-räumlich Lernende sind allerdings auch in der sequentiellen Verarbeitung von Hörreizen (also der Reihe nach) hervorragend. Sie haben vollen Zugang zu beiden Systemen. So ist es ihnen möglich, auf sequentielle „Versuch-und-Irrtum-Methoden“ zurückzugreifen, wenn sie auf ein Problem stoßen und nicht sofort ein Aha-Erlebnis haben. Gewöhnlich sind diese Schüler überdurchschnittlich begabt. Allerdings weist die Mehrheit der visuell-räumlich Lernenden, denen wir bei unserer Arbeit begegnet sind, Defizite bei der sequenziellen Verarbeitung von Höreindrücken auf. Das führt zu einer Reihe komplexer Probleme für diese Schüler. Es herrscht eine deutliche Diskrepanz zwischen dem Lernstil dieser Schüler und den Lehrmethoden ihrer Lehrer.
Visuell-räumlich Lernende, die Lernprobleme erfahren, weisen eine erhöhte Sinneswahrnehmung gegenüber Reizen auf, wie beispielsweise eine extreme Sensibilität gegenüber Gerüchen, ein äußerst feines Gehör und intensive Reaktionen auf laute Geräusche.
Sie werden ständig mit Reizen überflutet. Sie bekommen so viele Informationen, dass sie Schwierigkeiten haben, sie zu filtern. Sie tendieren zu einem exzellenten Gehör, können aber nur schlecht zuhören. Ihre Fähigkeit, gehörte Informationen zu speichern und zu erfassen, ist schwach und sie haben Schwierigkeiten mit aufeinanderfolgenden Arbeitsschritten.
Solche Kinder sind höchst perfektionistisch, was dazu führt, dass sie nicht mit Fehlschlägen umgehen können. Gewöhnlich lehnen sie Lernen nach der „Versuch-und-Irrtum-Methode“ ab, weil sie mit den Misserfolgen, die Bestandteil dieser Methode sind, nicht fertig werden. Sie haben einen Lernstil nach dem Prinzip "alles oder nichts" (Aha-Moment). Entweder sehen sie sofort die richtige Lösung eines Problems oder sie verstehen es überhaupt nicht. In letzterem Fall sehen sie vielleicht still zu, während sie vorgeben, nicht zuzusehen, oder vermeiden die Situation komplett, weil sie zu bedrohlich für ihr Ego ist.
Visuell-räumlich Lernende sind erstaunlich gut darin, Menschen zu „lesen“. Da sie sich nicht auf die gehörte Information verlassen können, entwickeln sie außergewöhnliche visuelle und intuitive Fähigkeiten, welche die Deutung von Körpersprache und Mimik einschließen.
Viele der Schüler, die in diesem Artikel beschrieben werden, sind dermaßen versiert, Hinweise zu deuten und Menschen zu beobachten, dass sie fast wortgetreu wiedergeben konnten, was eine Person gedacht hatte. Oftmals fühlen sie in der Schule die Beklemmungen und widersprüchlichen Gefühle eines Lehrers ihnen gegenüber und reagieren mit Aussagen, wie „dieser Lehrer hasst mich“.
In den meisten Fällen wird der visuell-räumliche Lernstil in der Schule nicht angesprochen und dementsprechend leidet das Selbstwertgefühl von Schülern, die in diesem Stil lernen. Herkömmliche
Lehrmethoden wurden für den Lernstil sequentiell Lernender geschaffen.
Begriffe und Konzepte werden Schritt für Schritt vorgestellt, durch Einpauken und Wiederholen eingeübt, unter Zeitdruck abgeprüft und dann besprochen. Dieser Ablauf ist ideal für sequentiell Lernende, die beim Lernen Schritt für Schritt von einfachen zu schwierigen Aufgaben voranschreiten.
Im Unterschied dazu sind räumlich Lernende als Systemdenker zu beschreiben: sie müssen das ganze Bild sehen, um die Teile zu verstehen. Sie tendieren dazu, den Wald zu sehen und dabei die Bäume nicht wahrzunehmen. Sie sind hervorragend in mathematischer Analyse, machen aber unter Umständen unendlich viele Rechenfehler, weil es schwierig für sie ist, auf Details zu achten. Ihr Leseverständnis ist gewöhnlich viel besser als ihre Fähigkeit, Wörter zu entschlüsseln.
Konzepte werden schnell verstanden, wenn sie im Kontext und in Zusammenhang mit anderen Konzepten vorgestellt werden. Sobald räumlich Lernende ein mentales Bild eines Konzeptes erstellt haben und sie sehen, wie sich die Information in das einfügt, was sie schon wissen, "sitzt" das Gelernte dauerhaft. Wiederholung ist bei diesem Lernstil absolut unwichtig und unnötig.
Allerdings kann die Information sich ohne einfach zu durchschauende Verbindungen nirgends im Gehirn festsetzen. Es ist wie Lernen in einem Vakuum und kommt dem Schüler vor wie zweckloses Üben von Sinnlosigkeiten. Lehrer missverstehen die Schwierigkeiten solcher Schüler mit den Unterrichtsstrategien als Unfähigkeit, die Konzepte zu lernen, und nehmen an, die Schüler bräuchten mehr Drill, um den Stoff zu begreifen. Bloßes Auswendiglernen und Drill sind für visuell-räumlich Lernende allerdings zerstörerisch, da diese Methoden die Schwächen dieser Schüler hervorheben anstelle ihrer Stärken. Wenn das passiert, landet ein solcher Schüler schnell in einer Abwärtsspirale des Misserfolgs: er denkt, er sei dumm, verliert alle Motivation und beginnt, die Schule zu hassen. Lehrer nehmen daraufhin an, dass es dem Schüler egal sei oder er faul sei, und es kommen Verhaltensprobleme dazu. Währenddessen erfährt das Selbstwertgefühl dieses Schülers durch diesen Kreislauf einen tiefen Einbruch.
In der herkömmlichen Schulsituation ist die Atmosphäre gegenüber visuell-räumlich Lernenden und ihren Fähigkeiten oftmals feindlich. Die Schüler sind visuell ausgerichtet, wogegen die
Instruktionen tendenziell akustisch sind: phonetische, verbale Anweisungen, etc. Die Lernenden lernen ganzheitlich und durch Aha-Erlebnisse, sie können ohne vorgegebene Struktur unterrichtet
werden, wogegen Lehrpläne sequentiell sind und ein geordnetes Voranschreiten von Inhalten und Ideen aufweisen. Die Schüler sind gewöhnlich desorganisiert und übersehen Details, wogegen die
meisten Lehrer auf eine gute Organisation und die Aufmerksamkeit für Details Wert legen. Der Schüler ist sich des Raums höchst bewusst, kümmert sich aber wenig um Zeit, wohingegen die Schule
jedoch auf der Basis strenger Zeitpläne funktioniert.
Eine Schlüsselkomponente bei der Motivationsrückgewinnung von visuell-räumlich Lernenden besteht darin, Erfolg zu erleben. Um diesen Schülern zu helfen, ihre Stärken zu nutzen und ihr Kompetenzgefühl aufzubauen, sollte Einzelunterricht erfolgen. Ein ernst gemeintes Lob wirkt Wunder. Räumlich Lernende tun sich oft hervor in Bereichen und Aktivitäten wie Lego, Computerspiele, Kunst oder Musik. Jegliche Fertigkeiten, in denen diese jungen Leute Erfolg erleben, sollten gefördert werden. Sie könnten als Erwachsene ihre Fähigkeiten, Interessen und Hobbys zum Beruf machen.
Als Erwachsene zeigen diese Personen in solchen Bereichen Stärken, die mit ihren räumlichen Fähigkeiten zusammenhängen: Kunst, Architektur, Physik, Flugtechnik, reine mathematische Forschungsarbeit, Ingenieurwesen, Computerprogrammierung und Fotografie.
Häufig gründen sie eigene Firmen oder werden wegen ihres Einfallsreichtums und ihrer Fähigkeit, Zusammenhänge auch bei einer großen Anzahl von Variablen zu erkennen, leitende Geschäftsführer in bedeutenden Unternehmen. Wir brauchen Personen mit hoch entwickelten visuell-räumlichen Fähigkeiten zur Weiterentwicklung in Kunst, Technik und Geschäftsleben. Sie sind die kreativen Führer der Gesellschaft. Wir müssen ihr Anderssein in der Kindheit beschützen und sie befähigen, ihre ganz eigenen Talente in einem unterstützenden Umfeld zu entwickeln. Das gilt sowohl für ihr zu Hause als auch für die Schule.
Den englischen Originaltext finden Sie unter folgendem Link:
http://www.dyslexia.com/library/silver1.htm
Über die Autoren:
Dr. Linda Silverman ist Direktorin des Institute for the Study of Advanced Development und des Gifted Development Center in Denver, Colorado. Außerdem ist sie Autorin der Bücher Counseling the Gifted and Talented und Upside-Down Brilliance.
Jeffrey Freed hat einen Hochschulabschluss im Unterrichten von außergewöhnlichen Kindern und ist Autor des Buches Zappelphilipp und Störenfrieda lernen anders: Wie Eltern ihren hyperaktiven Kindern helfen können, die Schule zu meistern (Originaltitel: Right Brained Children in a Left Brain World), welches sich auf Unterrichtsstrategien für Kinder mit AD(H)S konzentriert.
Quellenangabe:
Silverman, L.K., & Freed, J.N. (1991). The Visual Spatial Learner. Retrieved March 06, 2013 from Davis Dyslexia Association International, Dyslexia the Gift Web site: http://www.dyslexia.com/library/silver1.htm
© 1991, by Linda K. Silverman, Ph.D., and Jeffrey N. Freed, M.A.T.
Aus Ausgabe No. 4, Winter 1996, The Dyslexic Reader
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