Was ist ADHS wirklich?

I. ADS?

Schon in den Fünfzigern sprachen Wissenschaftler von mentalen Defiziten bei Personen, die trotz Aufforderung Schwierigkeit haben, aufmerksam zu sein. Später sprach man von minimaler Gehirndysfunktion und Hyperkinese (übermäßiger Bewegungsdrang). 1980 hat die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft (APG) schließlich die Bezeichnung Aufmerksamkeitsdefizit-Störung (ADS) dafür eingeführt. Doch 1987 hat APG diese Störung auch als zusammengehörend mit Hyperaktivität gesehen; mit einem Zustand also, der ADS manchmal begleitet. Doch ADS und Hyperaktivität können auch isoliert auftreten. Wie auch immer, wenn sie zusammen auftreten, so wird das ganze ADHS genannt: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung.

 

Bei welchen Symptomen spricht man nun von ADS oder ADHS? Diese sind: Vergesslichkeit; Ablenkbarkeit; Nervosität und Ungeduld; innere und äußere Unruhe; Impulsivität; Schwierigkeit, beim Arbeiten, Spielen oder Sprechen aufmerksam oder lange genug aufmerksam zu bleiben; Schwierigkeit, Anweisungen zu befolgen oder Aufgaben zu beenden.

 

Treten mindestens sechs dieser oder ähnlicher Symptome gleichzeitig auf und haben sie einen eindeutig problematischen Einfluss auf Bereiche wie Beruf, Schule, Alltagsbewältigung, menschliche Beziehungen oder soziales Verhalten, so spricht man, laut APG, von ADHS.

 

Nun schauen wir uns das, unabhängig von APG, genauer an...

 

II. Was ist ADS wirklich? MDS?

In der letzten Ausgabe (Lernintelligenz-Magazin, Nr. 1, S. 19) haben wir Aufmerksamkeit als  „die Gerichtetheit fokussierten Bewusstseins“ definiert. Auf der Grundlage dieser Definition von Aufmerksamkeit nehmen wir uns nun die Formulierung einer Definitionsgrundlage von ADS vor. Sie wird in Kontrast zur APG-Beschreibung von ADS vorgenommen (die ja aus einer Reihe von Symptomen besteht) und wird in mindestens allen diesen Symptomen zu identifizieren sein.

 

Im gewöhnlichen Sprachgebrauch spricht man von einer ADS-Person als von „einer Person, die nicht aufmerksam ist“, ohne dass das in seiner Bedeutung genau spezifiziert wäre. Tatsache ist, dass wenn wir diesen Sprachgebrauch wörtlich nehmen würden, ADS nach unserer Aufmerksamkeitsdefinition ein Phantom-Problem wäre. Denn nach nach unserer Definition von Aufmerksamkeit ist jeder Mensch ununterbrochen auf etwas aufmerksam. Anders formuliert: Man kann nicht nicht-aufmerksam sein!

 

Wenn also der  Ausdruck „Person X ist nicht aufmerksam“ nicht wortwörtlich gemeint ist, wie kann er sonst gemeint sein?

 

Meine erste Vermutung, wie der Ausdruck „Person X hat ADS“ oder „Person X ist nicht aufmerksam“ gemeint  sein kann, – formuliert aus meiner Erfahrung und Arbeit mit ADS-“Betroffenen“ und ihren Angehörigen – ist, dass diese Person X auf ein bestimmtes Objekt Y nicht aufmerksam ist, sondern auf Objekt Z, und zwar in einem Umstand, in dem es sich für diese Person X so gehören würde oder von dieser Person X erwartet wird, dass diese Person X auf dieses bestimmte Objekt Y aufmerksam ist und nicht auf das Objekt Z!

Wir könnten beispielsweise Y mit einem sprechenden Lehrer gleichsetzen oder mit einer Büroaufgabe und Z mit einem elektronischen Spiel oder mit einem Urlaubs- oder Freizeitwunsch...

 

Wenn diese Vermutung stimmt, dann können wir immer noch nicht sicher davon reden, dass Person X ADS hat. Es kann nämlich erstens sein, dass Person X nicht das geringste Interesse hat, auf Objekt Y aufmerksam zu sein! Wenn es so ist, dann handelt es sich hier um ein MDS-Problem (MDS = Motivations-Defizit-Syndrom). Dies ist keine offizielle, sondern eine von mir spontan formulierte und in vielen Fällen die eher treffendere oder die einzig treffende Bezeichnung.

 

Oder es kann zweitens sein, dass Person X zwar ein gewisses Interesse für Objekt Y aufbringt, aber gleichzeitig auch ein eindeutig stärkeres Interesse für Objekt Z hegt. Also liegt hier wieder kein ADS-, sondern eine minimal andere Variante bzw. Stärke eines MDS-Problems vor. (Wie man MDS-Probleme behandelt, muss an anderer Stelle dargestellt und behandelt werden).

 

Eine weitere Möglichkeit, wie der Ausdruck „Person X hat ADS“ oder „Person X ist nicht aufmerksam“ gemeint  sein kann, hat mit der Dauer der Aufmerksamkeit, anders gesagt, mit der Aufmerksamkeitsspanne zu tun. Hier liegt vor, dass Person X auf Objekt Y zwar aufmerksam ist (ob interessiert oder nicht), sie diese Aufmerksamkeit aber aus unterschiedlichen Gründen nicht lange genug oder nicht so lange wie nötig aufrecht erhalten  kann und sich deshalb notgedrungen anderen (das energetische, kognitive und emotionale Überleben fördernden) Objekten hinwendet. In diesem Fall könnten wir in der Tat von einem wirklichen ADS-Problem reden, sofern die Gründe für die kurze Aufmerksamkeitsspanne nicht mit mangelnder Motivation oder noch anderen, im Folgenden darzustellenden Gründen zu tun haben...

 

III. EDS?

Die zweite Sorte von vermeintlichen ADS-Problemen, die ich beruflich kennengelernt habe, haben mit einer Ausgeglichenheitsstörung des Energiehaushaltes zu tun. Was heißt das genau?

 

Ziehen wir zunächst das ganz einfache Beispiel in Betracht, dass alle von uns mehr oder weniger kennen, wenn unsere Aufmerksamkeit immer wieder weggleitet, immer wenn wir geistig gefordert werden und gleichzeitig schlichtweg müde bzw. erschöpft sind. Es ist sehr natürlich, dass wir dabei weggleiten, denn wir brauchen in dem Moment eine klare Pause oder eine längere Erholungsphase.

 

Ganz generell: es ist notwendig, ausreichende und ausgewogene Energie und Kraft zu haben und zwar angemessen verteilt auf die unterschiedlichen Tätigkeiten des beruflichen, des schulischen oder des allgemeinen Alltags. Wieso ausgewogen?

 

Erstens kann auch das Gegenteil eintreten: also nicht zu wenig Energie, sondern zu viel Energie. Das kann z.B. aus dem Missbrauch unterschiedlicher Nahrungsmittel resultieren oder aus Tätigkeiten, bei denen wir innerlich sehr bewegt werden – emotional oder z.B. durch elektronische Spiele – und dabei gleichzeitig körperlich ziemlich unbeweglich bleiben!

 

Kommt dann zweitens noch die Möglichkeit hinzu, dass wir durch Sport oder andere körperliche Betätigungen körperlich nicht ausgelastet genug sind, dann geraten wir in ein ziemliches energetisches Chaos oder in eine energetische Verstopfung hinein.

 

Das alles führt unweigerlich zu Aufmerksamkeitsproblemen, aber nur aufgrund energetischer Instabilität. Und dann kommt noch unsere „hochinnovative“ Informations- und Wissensgesellschaft mit ihren Myriaden Reizen dazu und wühlt uns auf oder verstopft uns zusätzlich. 

 

Das klingt alles sehr vielschichtig und komplex. Nur, wenn es eine Tatsache ist und alle diese Ursachen unsere Aufmerksamkeit verständlicherweise durcheinanderbringen, so müssen wir alle diese Unnatürlichkeiten oder Naturwidrigkeiten beim jeweils spezifischen Namen nennen und nicht eine Aufmerksamkeitsstörung an sich postulieren! Wir haben es hier ohne jeden Zweifel mit Ursachen energetischer Dysfunktions-Störungen (EDS), die Indikatoren eines ungesunden oder aus einem halbwegs natürlichen Fluss geratenen Lebens sind, die entsprechende Veränderungen erfordern und nicht künstliche oder verhaltensmilitärische Mittel zur Gefangennahme und Unterdrückung unserer lebendigen Aufmerksamkeit...

 

IV. Oder KDS?

 Meine dritte Vermutung, wie der Ausdruck „Person X hat ADS“ oder „Person X ist nicht aufmerksam“, gemeint  sein kann, hat mit einer Unfähigkeit zu tun. Und zwar mit der Unfähigkeit, an einem Kommunikations- oder Wissensprozess erfolgreich bzw. vollständig teilzunehmen. Genauer beschrieben liegt so ein Fall dann vor, wenn jemand als Empfänger eines kommunizierten Inhaltes das Problem erlebt, diesen Inhalt nicht leicht oder eben gar nicht zu vestehen, geschweige denn aufzunehmen. Gründe dafür:

  1. Der Inhalt wird von der betroffenen Person gar nicht verstanden, weil er ihr völlig fremd ist.
  2. Der Inhalt wird von der betroffenen Person nicht sicher verstanden, weil er ihr nicht völlig vertraut ist.
  3. Der Inhalt wird von der betroffenen Person gar nicht oder nicht sicher verstanden, weil die Art und Weise ihres Vorkommens und/oder Vermittelt-Werdens entweder nebulös oder komisch oder kognitiv trocken und/oder verworren ist.

Solch ein Inhalt kann z.B. eine Bruch- oder eine Integralrechnung sein. Es kann ein für eine Prüfung wichtiges und gleichzeitig mit Fremdwörtern regelrecht durchtränktes Buch sein. Es kann eine komplexe Managementaufgabe sein, die Durchblick, Übersicht, Organisation und Flexibilität erfordert!...

 

In allen diesen Fällen kann es also an mangelhaftem Verstehen oder an noch nicht erworbenen Fähigkeiten liegen, dass man sich trotz des frommen Wunsches, sich auf die jeweilige Aufgabe zu konzentrieren, es einfach nicht (genügend oder ausreichend) schafft. 

 

Würden wir die Komponenten 'Verstehen' oder/und 'Können' also in allen solchen vorliegenden Fällen als ursächlich für die Unruhe oder Bewegung unserer Aufmerksamkeit entdecken, so müßten wir in diesen Fällen von einer Kompetenz-Defizits-Störung sprechen (KDS) und nicht von ADS. ADS wäre demnach wieder keine Aufmerksamkeitsdefizit-Störung...

 

Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Lernintelligenz-Magazin, Nr.2


Ioannis Tzivanakis ist Autor des Buches "Schulasthenie" und zusammen mit Sonja Heinrich Leiter des Davis-Lernverbands (gGmbH).

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