Der Mensch ist sehr gut darin, Dinge auszublenden. Er übersieht zum Beispiel schnell Objekte oder Ereignisse, die sich in seiner direkten Umgebung befinden. Oder er schafft es, störende Geräusche, wie das Surren eines Ventilators auszublenden. Psychologen und andere Wissenschaftler, die dieses Phänomen untersucht haben, berichten manchmal von überraschenden und oft amüsanten Ergebnissen. Dazu gehört das Experiment "Personentausch". Eine Person wird von einem Fremden angesprochen und nach dem Weg gefragt. Während einer kurzen visuellen Ablenkung tauscht der Fragende seinen Platz mit einem ganz anderen Fremden. Die nach dem Weg gefragte Person bemerkt: nichts!
Im bekannten Experiment "Unsichtbarer Gorilla" bekommen die Studien-Teilnehmer die Aufgabe, den Verlauf eines Balles von Spieler zu Spieler zu beobachten. Konzentrieren sich die Teilnehmer auf die Aufgabe, bemerken sie nicht, dass ein Schauspieler in Gorillakleidung beiläufig durch die Szene schlendert. Selbst wenn der Gorilla stehenbleibt, um sich auf seine Brust zu schlagen, wird dies übersehen.
So witzig diese Experimente auch sein mögen, so gibt es für diese Unaufmerksamkeit und "Veränderungsblindheit" doch einen guten Grund. Unser Gehirn kann die kognitive Belastung nicht bewältigen, die daraus resultiert, sich ständig um alle Geräusche, Bilder und Empfindungen in unserer Umgebung kümmern zu müssen. Wir müssen in der Lage sein, schnell und intuitiv zu bestimmen, was relevant ist und das Irrelevante herausfiltern. Wir wären sonst niemals in der Lage, Aufgaben zu erledigen. Unser Verstand würde ständig von einer Ablenkung zur anderen springen. Das Herausfiltern des Irrelevanten ermöglicht es uns überhaupt erst, uns auf das zu konzentrieren und die Aufmerksamkeit auf das zu richten, was wir gerade zu tun versuchen.
Diese sehr menschliche Eigenschaft kann aber auch gefährlich sein. Alle Arten von körperlichen Verletzungen können die Folge sein, wenn der Verstand einer Person nicht auf das Unerwartete reagiert, weil er nicht darauf vorbereitet ist. Gauner und Taschendiebe nutzen das aus und machen sich auf überfüllten Straßen mit ihrer Beute oft unbemerkt und unerwartet davon. Potentielle Attentäter, die wie normale Passanten aussehen, entgehen oft der Aufmerksamkeit.
Glücklicherweise unterscheiden sich die Menschen in ihren Wahrnehmungsfähigkeiten. Nur etwa die Hälfte der Studienteilnehmer übersieht im Experiment den Gorilla. Allerdings können diejenigen, die den Gorilla sehen, dafür nicht mehr so genau verfolgen, wie oft der Ball gespielt wird. Es ist eben nicht so einfach für unser Gehirn, eine Mehrfachaufgabe zu meistern. Am Ende hilft die Vielfalt der Denkmuster aber jedem. Sie selbst bemerken eine unerwartete Gefahr vielleicht nicht, ihr Partner möglicherweise aber schon.
Es gibt einige Hinweise darauf, dass Legastheniker zumindest in einigen Umgebungen, manchmal sogar besser darin sind, den Hintergrund und die peripheren Details zu bemerken, die anderen entgehen. In einem Artikel in Scientific American (The Advantages of Dyslexia) beschrieb der Legastheniker Matthew Schneps Studien, die zeigten, dass Astrophysiker mit Legasthenie besser in der Lage waren, Muster zu identifizieren, die mit schwarzen Löchern im Raum verbunden sind. Legastheniker waren außerdem besser in der Lage, weit auseinander liegende Buchstaben zu identifizieren, die gleichzeitig in der Mitte und am Rand eines Bildschirms blinkten. Und Legastheniker konnten besser Wörter unterscheiden, die gleichzeitig von Stimmen gesprochen wurden, die weit über einen Raum verteilt waren.
Schneps stellte folgende Frage, nachdem er einen medizinischen Forscher mit Legasthenie zitiert hatte, der seinen beruflichen Erfolg auf eine erhöhte Sensibilität für "ungewöhnliche Dinge" zurückführte: Wenn Sie einen Wachmann einstellen sollen, würden Sie lieber eine Person nehmen, die in der Lage ist, sich stark zu konzentrieren und Ablenkungen zu ignorieren, oder eine Person, die zu mehr diffuser Aufmerksamkeit, Wachsamkeit gegenüber allem auf einmal und sehr empfindlich auf Veränderungen in der Umgebung reagieren kann? Offensichtlich kann eine Qualität, die in einem Umfeld zu Nachteilen führt, in einem anderen Umfeld ideal sein.
All dies erklärt, warum ich bestürzt war, als ich kürzlich Berichte über eine wissenschaftliche Studie las, die klare Belege für eine neuronale Basis dieser unterschiedlichen Wahrnehmungsstile lieferte - und diese dennoch als "Dysfunktion" von Legasthenikern bezeichnete. (Vergleiche: Dysfunction of Rapid Neural Adaptation in Dyslexia - Neuron, December 2016)
Die zugrunde liegende Forschungsmethodik schien solide zu sein. In einer Reihe von mehreren Experimenten wurden Erwachsene und Kinder mit und ohne Legasthenie verschiedenen Arten von wiederholten Reizen ausgesetzt. Darunter waren das Hören oder Lesen von Wörtern und das Betrachten von wiederholten Darstellungen von Bildern mit Objekten oder Gesichtern. Die Forscher verwendeten eine Form des fMRI-Hirnscannings, das Veränderungen in der Hirnaktivität während der Aufgaben darstellt. Damit sollte gemessen werden, inwieweit sich die Hirnaktivität mit fortschreitender Belastungsdauer gegenüber den wiederholten Reizen beruhigt - ein Maß für die "neuronale Anpassung" oder dafür, dass das Gehirn mit der Zeit nicht mehr auf bekannte Reize reagiert.
Die Experimente lieferten ein einheitliches und signifikantes Ergebnis: "In sechs Experimenten stellten wir fest, dass die schnelle neuronale Anpassung... bei Kindern und Erwachsenen mit Legasthenie für jeden untersuchten Reiztyp, Hörsprache, Bildsprache, visuelle Objekte und Gesichter, abnahm." Mit anderen Worten, die Forscher sahen durchgehend ein zunächst höheres Maß an Aktivität, das im Laufe der Zeit bei den Personen ohne Legasthenie immer mehr abnahm, im Gehirn der Legastheniker aber aufrechterhalten wurde. Dieses höhere Aktivitätsniveau konnte auch mit separaten Messungen der Lesefähigkeiten korreliert werden: diejenigen, die schwächere Leser waren, hatten ein höheres Niveau an anhaltender Hirnaktivität.
Obwohl dieses Experiment unter dem Problem leidet, dass alle fMRI-Studien dadurch beeinträchtigt sind, dass fMRI-Geräte ärgerlich laut sind, unterstützen die Daten zumindest einen Hinweis auf einen deutlichen Unterschied in den mentalen Verarbeitungsmustern, auch wenn das Ignorieren der von der Maschine ausgesendeten Geräusche eine weitere Sache ist, bei der Personen ohne Legasthenie besser sind.
Hätten es die Forscher dabei belassen, dann wäre es eine gute Studie.
Stattdessen warfen sie aber nun mit einer Reihe von negativen Etiketten um sich: "Dysfunktion", "Beeinträchtigung", "Versagen", "Störungen", "schädlich". An keiner Stelle der Studie wird dagegen auch nur spekuliert, ob der Unterschied in der mentalen Verarbeitung vielleicht auch deutliche Vorteile bringen könnte.
Irgendwie vermute ich, dass, wenn die Ergebnisse das Gegenteil gezeigt hätten - die Legasthenie-Gruppe also eher weniger nachhaltige Gehirnaktivität als mehr gezeigt hätte - diese Forscher dann eben dieses Ergebnis als Beweis für eine Hirndysfunktion gesehen hätten. (Tatsächlich habe ich wirklich schon Forschungsberichte gelesen, in denen weniger Gehirnaktivität als Hinweis auf Schwäche angesehen wird, während intensivere Gehirnaktivität als Beweis für Überarbeitung oder Ineffizienz beschrieben wird.)
Die Forscher selbst stellen fest: "Lesen Lernen ist eines der komplexesten Beispiele für menschliches Lernen, dessen Anforderungen sich aus der langen und ausdrücklichen Anleitung in der gesamten Kindheit und bis ins Erwachsenenalter ergeben. Es gibt kein anderes menschliches Verhalten, das bei den Anforderungen an die Koordination multimodaler Wahrnehmungsrepräsentationen und kognitiver Prozesse dem Lesen nahe kommt."
Sie stellen auch richtig fest: "Weil das Lesen eine relativ junge kulturelle Erfindung und keine durch natürliche Selektion geschliffene Anpassung ist, muss jede Beeinträchtigung der Leseentwicklung aus einem anderen, grundlegenderen Unterschied in der Struktur oder Funktion des legasthenischen Gehirns resultieren."
Da das Lesen etwas Neues und Schwieriges ist, was der Mensch tut, ist es logisch, zu dem Schluss zu kommen, dass Leseschwierigkeiten aus einem gewissen Unterschied in der Gehirnstruktur oder -funktion entstehen können, der nicht direkt mit dem Lesen Lernen zusammenhängt. Aber es folgt sicherlich nicht, dass der Unterschied ein Defekt oder eine "Dysfunktion" ist. Vielleicht haben sich die frühen Menschen nicht entwickelt, um „Krieg und Frieden“ zu lesen oder einen gespielten Ball mit den Augen zu verfolgen, aber sie haben sich weiterentwickelt, um zu vermeiden, dass sie von Tigern verfolgt werden, die sich zwischen den Büschen verstecken, von Schlangen gebissen werden, die aus den Bäumen fallen, oder von Krokodilen weggerissen werden, die in stillen Teichen lauern.
Und vielleicht ist es gut, dass wir noch ein paar Tigerspäher in unserer Mitte haben.
Vielleicht wäre es auch wissenschaftlicher, sich bei der Betrachtung jeder Art von biologischem oder neurologischem Unterschied einfach an die Fakten zu halten, ohne Werturteile abzugeben oder abwertende Formulierungen zu verwenden. Ein guter Wissenschaftler bezieht immer alle Möglichkeiten mit ein.
Die Studie liefert nützliche Daten. Sie unterstützt unsere Ansicht, dass Legasthenie das Ergebnis von Gehirnunterschieden ist, die viel mehr sind als nur ein Unterschied in der Art und Weise, wie das Gehirn schriftliches Material verarbeitet. Sie kann auch Beweise dafür liefern, wie oder warum die Instrumente der Davis® Orientierungsberatung funktionieren, indem sie es der Person ermöglichen, die Kontrolle über die mentale Fokussierung und das Wahrnehmungsbewusstsein auszuüben.
Aber die Beschreibung eines Unterschieds als Fehlfunktion untergräbt den Wert der in der Studie geleisteten Arbeit. Sie offenbart Vorurteile der Forscher und ihres Denkens. Sie deutet auch darauf hin, dass die Forscher nach Wegen suchen, eine natürliche Funktion zu unterdrücken, anstatt die Fähigkeiten zu verstehen und zu fördern, die die Ursache für legasthene Talente wie Kunstfertigkeit, Erfindungsgeist und Problemlösung sein können.
Nachtrag: In den Jahren 2018 und 2019 veröffentlichte die Zeitschrift "Brain Sciences" zwei Artikel, die die Charakterisierung von Hirndifferenzen im Zusammenhang mit Legasthenie als Erkrankung hinterfragen. Die Forscher kommentieren: "Welche Fähigkeiten wir auch immer betrachten, wir stellen fest, dass verschiedene Menschen unterschiedlich effektiv (oder effizient) lernen.“ Sie weisen außerdem darauf hin, dass die oft negative Bewertung von Legasthenie nur auf die aktuelle kulturelle Bedeutung des Lesens und der Alphabetisierung zurückzuführen ist, und erklären: "Ein Gehirn auf der Grundlage lediglich kultureller Gegebenheiten als unsachgemäß entwickelt zu beschreiben, führt zu unsinnigen Konsequenzen".
Dieser Artikel wurde ursprünglich am 26. Dezember 2016 veröffentlicht und am 28. Juni 2019 mit neuen Informationen aktualisiert.
Quellenangabe:
Link zum Original-Artikel:
Finden Sie den Inhalt interessant und möchten ihn gerne teilen?
Einfach auf einen der Buttons klicken!